Die Tiefenpsychologie nach C. G. Jung by Verena Kast

Die Tiefenpsychologie nach C. G. Jung by Verena Kast

Autor:Verena Kast
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi, epub
ISBN: 9783843605595
veröffentlicht: 2017-04-24T22:00:00+00:00


Der Traum am Ende einer Analyse

Eine 45-jährige Frau träumte nach dreijähriger Analyse, in der ein Individuationsprozess angestoßen wurde: »Die Frau Tödin erscheint. Ich weiß einfach, dass es die Frau Tödin ist. Es ist, als ob sie durch mich durchschauen würde. Ich bin gebannt von ihr, kann nicht wegsehen. Sie trägt drei Rosen in ihrer Hand.«

Die Träumerin war sehr gefangen von diesem Traum. Sie fand ihn einen der bedeutungsvollsten Träume, die sie je gehabt hatte. Sie beschrieb die Tödin: Sie trug lange, schwarze Kleider, war jung, so um die dreißig, gut genährt, sehr sinnlich und erotisch, irgendwie sehr real und erdverbunden, und dennoch unendlich geheimnisvoll. Sie zu kennen, meinte die Träumerin, hieße, das Geheimnis von Leben und Tod zu verstehen. »Wenn sterben heißt, dieser Frau zu folgen, dann sterbe ich gerne.« Sie meditierte die Tödin, fragte sich, was es bedeute, dass der Tod eine Frau sei. Dann konzentrierte sie sich auf die drei Rosen – altrosa Rosen – als Ausdruck von Liebesgefühlen. Liebe und Tod – das war das Thema, das sie nun beschäftigte, aktuell, aber auch als eines ihrer Lebensthemen.

Der Traum weckte in ihr eine tiefe Sehnsucht, lebendig zu sein, den Mut zu finden, wirklich das in ihrem Leben zu realisieren, was ihr wichtig war, und nicht das, was von ihr erwartet wurde. Es war auch eine Sehnsucht nach umfassendem Eros in ihrem Leben. Die Tödin blieb für uns beide eine faszinierende, schwer zu erfassende Gestalt; je länger die Beschäftigung mit ihr andauerte, desto mehr wurde sie ein Symbol für das blühende Leben.

In der Beziehung zur Außenwelt erregten die »gewöhnlichen« Frauen ihren Ärger: Sie wollte Frauen finden, die der Tödin zumindest ein wenig glichen, aber das war natürlich nicht möglich. Als sie erkannte, dass es wohl eher um eine Gestalt ihrer Seele ging, die sie sehr nah an ihr Zentrum brachte, schrieb sie Gedichte, in denen diese Tödin eine Rolle spielte, und malte sehr einfache Bilder.

Über die Fantasien, die sie mit der Tödin verband, aber auch die Gedichte und Bilder sprach sie in der Analyse. Zum einen löste dieser Traum einen Kreativitätsschub in ihr aus. Zum anderen begann sie, sich für das Thema der Weiblichkeit zu interessieren. So begann sie ganz pragmatisch, sich für ihre Mutter als Frau, nicht einfach als Mutter, zu interessieren. Immer mehr aber interessierte sie sich für ihr eigenes Frausein.

Solange sie sich mit der Tödin als innerer Gestalt beschäftigte, waren Übertragung und Gegenübertragung nicht so sehr wichtig. Als sie sich mehr mit ihrer Mutter und dem Thema der Weiblichkeit beschäftigte, wurde die Gestalt der Tödin auf mich projiziert, konnte aber leicht als Projektion erkannt werden.

Indem die Träumerin sich mit der Bedeutung des Todes auseinandersetzte, sich durchaus auch etwas bedroht fühlte in ihrer so normalen Gewissheit, unsterblich zu sein, wuchs das Gefühl für die unendliche Kostbarkeit des Lebens und der Liebe. Diese Traumfigur gab ihrem Leben eine neue Richtung, Sinnerfahrung und Bewusstheit der eigenen Identität.



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